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A Leap of Faith

Kurz nach meiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1990 wurde ich zur Teilnahme an einem Kunstprojekt in der Natur mit 30 anderen Künstlern und Bildhauern eingeladen. Das Thema dieses zweiten alljährlichen Projekts war "Von Brücke zu Brücke". An die letzte Arbeit in meinem Loft in Los Angeles anknüpfend schuf ich ein Gemälde aus acht mit Seilen verbundenen Teilen, das schließlich von einer Flussbrücke hing. Unter dem Titel "Zwischen zwei Ufern gestrandet" beschrieb dieses Gemälde den Schwebezustand in einer Gefühlslage des fortwährenden Übergangs.

Wie auch in meinen früheren Arbeiten ging es mir nicht darum, meine Gefühle über Punkt A oder Punkt B auszudrücken, über diese Landschaft oder jene Person, sondern über die Energie, Spannung und willkürliche  Hin-und-Her-Bewegung zwischen beiden Polen. Obwohl das Pulsieren zwischen den beiden Standpunkten in dieser neuen Arbeit fortdauerte, beschrieb sie jetzt den Zustand zwischen beiden Ufern, in dem man weder vor noch zurück kann, während das Wasser darunter so verlässlich ist wie ein Teppich, der einem immer wieder unter den Füßen weggezogen wird. Es entwickelt sich eine Form, die ein Gewicht darstellt – einen Ballast – und wenn man überleben will, muss man alles über Bord werfen, um dieses Gewicht zu verringern, sogar die Dinge, ohne die man nie auszukommen geglaubt hatte, damit man sich trauen kann, so weit zu springen, dass man sich nicht sicher ist, ob man es schaffen kann, und an ein so fremdartiges Ufer, dass man nicht weißt, ob man es überhaupt will.

Stranded Between Two Shores, 1991, Acryl auf handgeschöpftem Papier,
52 x 93 cm

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Stranded Between Two Shores, 1991,
Acryl auf handgeschöpftem Papier,
52 x 93 cm

Mit diesem Thema habe ich mich dann auch in den folgenden acht Monaten als Aufenthaltsstipendiat in Worpswede beschäftigt, einer Künstlerkolonie unweit von Bremen. Jenes Gemälde, das in der Kleinstadt Treuchtlingen von dieser Brücke hing, wurde so zum Ausgangspunkt für die Arbeiten der nächsten zwei Jahrzehnte. Unter dem Titel "A Leap of Faith" vereint diese Werkgruppe insgesamt zehn Zyklen von Gemälden, Objekten, Zeichnungen und Grafiken. Die Redewendung, die mich dazu inspiriert hatte – wörtlich übersetzbar als Sprung des Glaubens oder auch als Vertrauensvorschuss – kann als Glaube an etwas oder Annahme von etwas interpretiert werden, das weder greifbar noch empirisch bewiesen ist. Die gesamte Werkgruppe sollte nicht nur dem Unsagbaren ein Gesicht geben, sondern auch eine visuelle Form für eine im Grunde genommen abstrakte Bewegung finden, und für die Hindernisse, die ihr entgegenstehen könnten.

Die langgestreckten Leinwände des ersten Bilderzyklus "A Leap of Faith I" hängen losgelöst wie Wandteppiche, frei von konventionellen Beeinträchtigungen. Im Gegensatz zu meinen früheren Bildern auf schwerer Armeeleinwand, die ich in der Innenstadt von Los Angeles gefunden und vernäht hatte, wurden diese auf einer hellbraunen Leinwand erarbeitet, die ich mir von einem Bremerhavener Segelmacher bestellt hatte. Ohne Vorgrundierung mit Gesso dämpften diese hellbraunen Leinwände alle Pigmente und ließen so die Palette der norddeutschen Landschaft widerspiegeln. Die Anmutung dieser Gemälde ist ganz eindeutig von den gedeckten Farben des Nordens und seinen flachen Landschaften mit ihrem sichtbaren Horizont geprägt. Dieser findet sich in einer langen, treibenden Diagonale wieder – die den Sprung darstellt – während sich die verhaltene Palette stark von den grellen, klar umrissenen Farben unterscheidet, die die südkalifornische Sonne meiner Jugend zurückwarf.
A Movement in Time, 1993, Acryl auf Leinwand, 200 x 700cm

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A Movement in Time, 1993,
Acryl auf Leinwand, 200 x 700cm
Zurück in Kalifornien sollten sich die Gemälde des folgenden Zyklus, "A Leap of Faith II: the Mountains, the Void and the Abyss", als die letzten herausstellen, die ich in meinem Loft in Los Angeles fertig stellen würde. Mit ihren Acrylfarben auf grüner, mit gessogrundierter Armeeleinwand reflektieren diese Gemälde das grelle Licht und die starken Kontraste Südkaliforniens. Die Begriffe, die diese Periode begleiten, sind Last – das Gewicht der Vergangenheit; Kluft – der unermesslich tiefe Abgrund, der mutig zu überspringen ist,und Leere – der unfassbar riesige Raum, den man durchspringt, und der nichts weiter als ein dunkler, leerer und – so einschüchternd er auch sei – unbedeutender Moment innerhalb der Zeit sein könnte. Ganz besonders ein  Gemälde auf Papier, "A Movement in Time", sollte in späteren Schaffensphasen als "Zitat" fungieren. Verkleinert und als "Ein Zitat von '93" bezeichnet taucht es in mehreren späteren Bildern wieder auf als Sinnbild all dessen, was ich während "A Leap of Faith II" gelernt hatte. Ich entdeckte, dass ich diese Methode dazu verwenden konnte, visuelle Lösungen von jedem aufeinanderfolgenden Zyklus von "A Leap of Faith" in den nächsten zu übernehmen, als Zitat.

Dem Zyklus " A Leap of Faith III: The Farewell Letters " ging eine Übergangsphase von Gemälden auf langgestreckte acht Meter grossen Leinwänden voraus. Diese Bilder auf den alten, geflickten, hellen Segeln, die mir der Segelmacher aus dem nahe gelegenen Bremerhaven besorgt hatte, setzen sich unter dem Titel "A Movement in Time" mit reiner Bewegung auseinander und sind transparenter als alle anderen vor ihnen. Ihre Oberflächen sind aus Collage, wässrigem Tee und Tusche aufgebaut, mit Spuren verschiedenster Stifte und Kreiden, bevor ihre endgültige Form mit Acrylpigmenten herausgearbeitet wird. Die langgestreckten Leinwände, die seit 1984 so typisch für mein Werk sind, gehen auf eine Zufallsbegegnung in Kalifornien zurück. Beim ziellosen Stöbern in den Regalen der Universitätsbibliothek fiel mir förmlich ein Buch über das Gemeinschaftsgemälde der Gruppe SPUR im Palazzo Grassi in Venedig in die Hände. Was mein Interesse damals geweckt hatte, waren weniger ihre politischen Manifeste oder gar das Aussehen ihrer Arbeiten, sondern vielmehr die Idee, alle konventionellen bzw. vermarktungsfähigen Konzepte im Hinblick auf Größe und Materialien links liegen zu lassen und die sich durch ungewöhnliche Ausstellungsorte eröffnenden Möglichkeiten.
The Burden and Two Leaps (3 Abschiedsbriefe), 1994,
Acryl + Collage + Leinwand auf Holzkiste, je 114 x 80 cm

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The Burden and Two Leaps (3 Abschiedsbriefe), 1994,
Acryl + Collage + Leinwand auf Holzkiste, je 114 x 80 cm

Doch als ich mich dann aus verschiedenen Gründen dazu gezwungen sah, in meinem neuen Atelier in Bremen kleinere Arbeiten anzufertigen, musste ich auf meine gewohnten, vier bis acht Meter langen Stücke ungespannter Leinwand, die großen, 25 cm breiten Pinsel und die schnell trocknenden Acrylfarben verzichten. Mit Wachskreiden zur Erkundung dessen, was ich zuvor gemalt hätte, wurden die "Abschiedsbriefe" auf Collagen gezeichnet, wobei die Zeichnung um die 6 cm tiefen Kanten herumgezogen wird. Nicht nur war hier die Bewegung erstmalig durch vertikale Formate zur Ruhe, sondern die Größenbeschränkung auch durch eine begrenzende Umrandung aus Collage zum Ausdruck gebracht worden.

Manchmal bestand diese begrenzende Umrandung aus Sackleinen oder Leinwand, meistens jedoch aus Zeitungspapier. Dieses Zeitungspapier fungierte nicht nur als Umrandung, sondern schrieb auch meine fortlaufende Beschäftigung mit dem Problem der Zeit, der Wahrheit und unterschiedlicher Standpunkte fort, dem Gegenstand meiner Malerei seit 1980. Ich verstehe Zeitungspapier als bestes Beispiel für etwas, das für aktuell gehalten wird, obwohl die Information im Moment ihrer Drucklegung zur Vergangenheit wird. Aus diesem Grund verwende ich es zur Verbildlichung des ständigen Flusses von Zeit und Wahrheit, Ideen über Zeit, Dauer und Élan, wie sie der französische Philosoph Henri Bergson formuliert hat, dessen Gedanken meine Anliegen seit 1984 begleiten. Da die Zeit gebietet, dass nichts stabil bleiben kann, geht es in diesen Gemälden um Abschied, um Aufhebung und um die mit einer Bewegung in der Zeit einhergehenden Furcht, Hoffnung und Erwartung.

 

Laut Dr. Bernd Küster, Direktor der Museumslandschaft in Kassel, "könnte die Linie, die sich jetzt horizontal durch die 'Abschiedsbriefe' bewegt, als Riss zwischen Vergangenheit und Zukunft verstanden werden, oder zwischen den amerikanischen und deutschen Mentalitäten und ihren Wirklichkeiten, oder als Naht, den vergeblichen Versuch, zwei Linien zu einer zu vernähen. Manchmal reißt diese Narbe auf und ähnelt einer Wunde. Eine dreieckige Form, ähnlich wie die den Fluss überspannende in 'Stranded between Two Shores', symbolisiert das Gewicht der Erinnerungen und Sehnsüchte, von denen man sich trennen muss, um zu überleben."


Kurz nach der Fertigstellung von "A Leap of Faith III: the Farewell Letters" widmete ich mich einer Reihe von Gemälden unter dem Titel "Letters of My Alphabet". Die Absicht bestand darin, bestimmte Zeichen und Formen "einzufrieren", sodass sie gemeinsam als "Worte" verstanden werden könnten, und manchmal sogar als "Sätze". Ich wollte dem Betrachter helfen, sich mit diesen neuen Zeichen und Formen vertraut zu machen, die ursprünglich - verständlicher Weise - genauso bedeutungsleer sind wie Worte in einer unbekannten Sprache. Diesen Prozess habe ich später nach mehreren Phasen von "A Leap of Faith" in weiteren Prologen fortgesetzt, die jeweils ein Alphabet von fünfundzwanzig kleinen Gemälden enthielten - den so genannten "Letters" (Buchstaben/Briefen).

 

Like a Bullet, 1996, 
Öl, Kreide, Collage auf Holzkiste, 148 x 185 x 4 cm

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Like a Bullet, 1996,
Öl, Kreide, Collage auf Holzkiste, 148 x 185 x 4 cm

Der nächste Zyklus, "A Leap of Faith IV: Margot´s Song and the Song of Solomon", konzentriert sich zum Teil auf zwei oder drei Formen und erkundet die Frage nach ihrer Integrität oder Komplizenschaft wenn sie sich berühren oder im Raum überkreuzen - eine Problemstellung, mit der ich mich zehn Jahre zuvor schon einmal in den Arbeiten für "Shattered Faith" beschäftigt hatte. Doch wo 1990 Acrylpigmente und 180 x 180 cm große Bögen handgeschöpften Papiers aus Spanien zum Einsatz kamen, gaben mir "Oil Sticks" ein Jahrzehnt später neue Möglichkeiten an die Hand, das Thema der Grenzen - und der Einheit in der Vielfalt - auszuloten.Transparente Lasuren interagieren hier mit deckenden Lagen von Öl, Tusche und Wachskreide auf verschiedenen Collagematerialien wie Leinwand, Sackleinen, Japanpapier, Zeitungspapier und braunem Packpapier.

Dem Ende der "A Leap of Faith IV"-Periode folgte der Prolog "Letters of My Alphabet II". Während die Stimmung der Zeichnungen im ersten Prolog von 1995 noch von Tusche und Wachskreiden geprägt war, entwickelten sich diese "Letters" zu kleinen Gemälden. Und wo mich ein 2,50 m breites Format einst dazu gezwungen hätte, auf Zeicheninstrumente zurückzugreifen, da ich in dieser Beengung nicht hätte malen können, hatte ich mittlerweile gelernt, ungeachtet solcher Größenbeschränkungen zu arbeiten.

 

Das Thema der Grenzüberschreitung und Unvermeidbarkeit von Trennung, Abschied und Trauer wird wieder aufgegriffen im Bilderzyklus "A Leap of Faith V: The Water Was Wide", in dem die einengenden Grenzen früherer Zyklen optisch von Lagen deckender Pigmente durchkreuzt werden oder vollständig darunter verschwinden. Wie bei einer Ausgrabungsstätte, in der man Schichten aus Stein und Erde entfernt, um die Kulturen früherer Zeiten freizulegen, könnte die Farbe theoretisch abgekratzt werden, um eine frühere Version der Wahrheit zu offenbaren. Anstatt sich durch die verschiedenen Blickwinkel in einer langgestreckten horizontalen Leinwand zu bewegen, sind Fragen der Zeit, widersprüchliche Gesichtspunkte und Perspektiven hier übereinander organisiert. Die "Letters of My Alphabet III" — der dritte Prolog dieser Art — geben einen Einblick in die neuen Formen, die diese Periode hervorrufen.

Durch das bewusste Arbeiten mit Materialien, die sich einander widersetzen, fand ich eine Methode, jedem einzelnen Mal seine Integrität und seine Verkörperung einer Idee oder einzigartigen Situation zu erhalten. Im Verbund mit allen anderen konnten diese individuellen Zeichen die Vielfalt gegensätzlicher Blickwinkel verkörpern. Gleichzeitig konnte durch die vollzogene Synthese ein neues, vereintes Ganzes entstehen. Während ich weiterhin alle spezifischen Gedanken oder Erfahrungen durch meine Zeichen und Formen ausdrücken konnte, war es mir nun auch möglich, sie gleichzeitig zu einem neuen, einheitlichen Ganzen zu versöhnen, so widersprüchlich diese Blickwinkel und Perspektiven auch gewesen sein mögen. Auf diese Weise wurde jedes der ursprünglichen Zeichen nicht zerstört, sondern behielt seinen angemessenen Wert —als meine persönliche visuelle Antwort auf Hegel's Dialektik zur Frage der Einheit in der Vielfalt.

 

Scroll, A Leap of Faith I, 1994, Tusche auf Japanpapier, 41 x 121 x 6 cm

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Scroll, A Leap of Faith I, 1994,
Tusche auf Japanpapier, 41 x 121 x 6 cm

In "A Leap of Faith VI: To Part" wird die Bedeutung und der Akt der Trennung auf zerbrechlichen Rollen japanischen Papiers erforscht. Als Hommage an das Gedicht "Part" von Phillis Levin suchen diese Rollen, im Gegensatz zu all meinen vorherigen Bildern, bei der Beleuchtung eines Problems von verschiedenen Perspektiven nicht nach einer Lösung, sondern beschreiben einfach eine Situation - einen Daseinszustand. In manchen davon verflechten sich — kaum leserlich — Auszüge der Gedichtzeilen mit Zeichen und Formen auf der Suche nach einer visuellen Darstellungsweise der Bedeutung von Trennung. Wie bei den "Abschiedsbriefen" aus dem dritten Zyklus von "A Leap of Faith" wird der üblichen horizontalen Bewegung meiner Gemälde hier einzig vom Hochformat Einhalt geboten, das für den Akt der Betrachtung eine größere Bedeutung erzwingt als für die Suche.

Im Gegensatz zu den vertikalen Rollen, die frei und losgelöst von jeglichem Rahmen hängen, sind die horizontalen Rollbildern von hölzernen Kästen umschlossen. Neben den Rollen aus Japanpapier  —die zusammengerollt werden können —wurden bei anderen Rollbildern Collagen und Papier auf Leinwand aufgezogen, um mit Tusche, Gouache, Tempera und Acryl zweiseitige Rollen zu schaffen.

 

In " A Leap of Faith VII: Roasted Chestnuts and Persimmons" werden die Acrylpigmente vollständig von mehrschichtigen Öllasuren verdrängt. Obwohl die Oberfläche dieser Bilder mit Tinte und Kreide auf Collage ausgearbeitet wurde wie in den vorhergehenden fünf Zyklen, kommt es in dieser Arbeitsperiode zu immer größerer Transparenz. Die Grenze rechts im Bild wird ebenfalls zunehmend  heller, bis sie letztendlich völlig von der Komposition verschluckt wird. Die eine verbleibende Grenze am unteren Ende der Komposition erinnert an die Lösung, die auch in den "Early Works (Munich)" zu finden ist und der Darstellung einer anderen Version der Wahrheit dient. Gestalten und Formen aus vorhergehenden Zyklen von "A Leap of Faith" und früheren Schaffensperioden wie "Shattered Faith" werden als "Zitate" eingesetzt, um eine Diskussion zu entfachen, in deren Verlauf ich Fragen stellen und nach neuen Lösungen suchen kann. An welchem Punkt verliert eine Form ihre Integrität, wenn sie mit einer anderen zusammenwirkt? Können die Kontraste und Widersprüche spezifischer Erfahrungen mit all ihren Komplikationen bei der Synthese zu einer höheren Einheit beibehalten werden (Hegelsche Dialektik)


Dieser Arbeitsperiode ging wieder als Prolog "The Letters of My Alphabet IV" voran. Wie in allen Alphabeten ist die Reihenfolge der einzelnen Bilder auch hier veränderbar, um visuell neue "Gedanken" auszudrücken.

 

Wie es ist und wie sein könnte 2004, Collage und Tusche auf Leinwandkiste, jeweils 40 x 80 x 4 cm

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Wie es ist und wie sein könnte 2004,
Collage und Tusche auf Leinwandkiste,
jeweils 40 x 80 x 4 cm

Auf der Suche nach einer neuen Technik, die mich dazu zwingen würde, alle Angewohnheiten abzulegen, die ich mir in jahrzehntelanger Malerei angeeignet hatte, fing ich 2004 an, mit Tusche, Gouache und Tempera auf gespannter Leinwand zu arbeiten — einem Untergrund, den ich seit meiner Studentenzeit bewusst vermieden hatte. Aus Experimenten mit erwärmtem Bindemittel und Tinte entwickelte ich eine Methode zur Bearbeitung der großen Formate in "A Leap of Faith VIII: It Was Like This", in denen ich mich weiterhin an den Rändern der Leinwandkisten entlang bewegte wie zuvor bei den Holzkisten der vorangegangenen vier Zyklen von "A Leap of Faith". Die Grenzen, die seit " A Leap of Faith III: the Farewell Letters" einen festen Bestandteil all meiner Kompositionen gebildet hatten, sind jetzt völlig verschwunden, mit Ausnahme des unteren Bandes visueller Informationen, das in den früheren Münchner Arbeiten schon einmal als Lösung gedient hatte.


Die sich langsam entwickelnde Idee der Dreiteilung wurde entweder innerhalb der Kompositionen erforscht oder durch Einsatz mehrerer Leinwände. Während jede Leinwand für sich genommen ihre eigene horizontale Komposition präsentiert, verbinden sie sich letztendlich zu einem einzigen Bild mit vertikaler Komposition. Neben den Inhalten der Bilder selbst benutzte ich die Idee der Dreiteilung zum Ausdruck des Gedankens der Vielfalt, während die Komposition eines aus beispielsweise drei Leinwänden zusammengesetzten Gesamtbildes für den Gedanken der Einheit steht. Diese Idee der Dreiteilung würde sich letztendlich in Triptychen niederschlagen.

 

Die Gelegenheit, als Artist-in-Residence in einem kleinen Atelier auf dem Grundstück des Casa Zia Lina auf der italienischen Insel Elba zu arbeiten, wurde zu einem Intermezzo, in dessen Verlauf ich mich nach Jahren der ausschließlichen Innenschau wieder der "wirklichen" Welt zuwandte. Umgeben vom Meer und den Bergen setzte ich meine Experimente mit Tusche und Hasenleim fort, indem ich die erwärmte Mischung schnell auf handtellergroße Kartonstücke über Collage aufbrachte und den schwarzen vulkanischen Sand der Insel und Ockerpigment aus einheimischem Stein hinzufügte. So wurde nicht nur ein weiteres Vokabular von Zeichen und Formen geboren — "Das Elba-Alphabet" — sondern gleichzeitig auch eine Methode für weitere Arbeiten auf Leinwandkisten entwickelt, die sich mit dem Konzept der Dreiteilung befassen, wenn auch bisher nur innerhalb der Komposition selbst.

 

 

The Way It Is and the Way It Could be VI, 2006, Tusche, Collage auf Leinwandkiste, 
50 x 50 x 4 cm geschlossen, 
50 x 100 x 4 cm geöffnet

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The Way It Is and the Way It Could be VI, 2006,
Tusche, Collage auf Leinwandkiste,
50 x 50 x 4 cm geschlossen,
50 x 100 x 4 cm geöffnet

Die Idee der Dreiteilung entwickelte sich dann schließlich vollends zu Triptychen im Zyklus "A Leap of Faith IX: How It Is and How It Could Be", in dem die Seitenflügel jetzt interagieren. Doch im Gegensatz zu den Seitenflügeln gotischer Altargemälde, die Wochentags geschlossen bleiben, um nur Sonntags geöffnet zu werden, kann man diese Seitenflügel beliebig auf- oder zuklappen. In geschlossenem Zustand stellen sie ein eingeengtes Leben dar, zum Beispiel durch gesellschaftliche Normen, Einschränkungen, Krankheit oder Schicksalsschläge; geöffnet offenbaren sie hingegen ein freies Leben in ständiger Bewegung. Die Medien erweiterten sich um den schwarzen vulkanischen Sand bzw. Pigmente aus dem ockerfarbenen Gestein von Elba, neben Collagen mit transparenten Öl- und Tuschetönungen. Die Seitenflügel können geöffnet oder in unzähligen Variationen teilweise geschlossen werden, als Sinnbild der Kluft, die für jedermann zwischen Illusion und Wirklichkeit steht.

 

Die Seitenflügel der Gemälde des letzten Zyklus "A Leap of Faith X: the Embrace" sind nicht länger ganz geschlossen, sondern zum Raum hin geöffnet. Formell schließen sie den Kreis, der 1984 mit dem 6 m breiten Gemälde "The Journey" begonnen hatte, das ebenfalls im Raum hing, ihn definierend.



 
 
Margaret Kelley
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